Über die (Un)Bequemlichkeit zu wählen

22. Sep 2017·
Samuel Teuber
Samuel Teuber
· 6 min read

Alle 4 Jahre steht sie wieder an: Die Bundestagswahl. Wer zu dem Zeitpunkt nicht in Deutschland ist, muss Briefwahl beantragen - klingt zunächst einfach.

Mitte Juni 2017

“…und dann muss ich noch die Briefwahl beantragen”, denke ich mir, als ich mich mal wieder auf meinen Auslandsaufenthalt vorbereite. Kann ja nicht so schwer sein, werde ich mich nächste Woche Mal drum kümmern. Das geht vermutlich sowieso erst, wenn ich mich nach München umgemeldet habe, da ich ja dann dort meine Briefwahlunterlagen beantragen muss.

Ende Juni 2017

Ach, wie praktisch! Das kann ich ja sogar online beantragen! Dann mache ich das also Anfang August, wenn das möglich ist.

Anfang August 2017

Briefwahlunterlagen beantragen: erledigt

Mitte August 2017

Schade, die werden ja erst Mitte/Ende August verschickt… Naja dann müssen die mir meine Eltern halt Anfang September nach dem Urlaub schicken…

27. August 2017

Im Wohnheim eingezogen. Ach ja, wo wohne ich eigentlich? Ich muss mal meine Adresse raussuchen… Mh, auf Google und in unserem Navi heißt die Straße des Wohnheims irgendwie anders, naja, die Version auf der Website wird schon stimmen.

13. September 2017

Meine Briefwahlunterlagen sind endlich angekommen und wurden sogleich von meinen Eltern weitergeschickt. Die Adresse habe ich ihnen ja schon gegeben.

14. September 2017

Ich erhalte einen Brief für mein neues Bankkonto. Bei genauerem Hinsehen entdecke ich, dass die Adresse eine andere Hausnummer enthält – nämlich die korrekte Hausummer, wie ich feststelle. Um genau zu sein: Die Hausnummer unterscheidet sich um 1000 von der mir bis jetzt bekannten. Zu allem Überfluss ist auch die Postleitzahl eine andere! Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Ich denke an den Brief, den mir meine Eltern geschickt haben: Die Briefwahlunterlagen! Was wenn der nicht ankommt? Oder nicht rechtzeitig? Naja wenigstens ist es ein Einschreiben…

15. September 2017

Der Brief scheint sich noch nicht merklich bewegt zu haben. Ich werde nervös. 9 Tage! Und der Brief muss auch noch wieder zurück nach Deutschland zurück! Meine Eltern haben für mich beim Briefwahlbüro angerufen. Neue Briefwahlunterlagen sind zwar ausstellbar, aber das “deaktiviert” natürlich die alten. Und einen neuen Brief jetzt noch rechtzeitig zu verschicken, das wird knapp…

16. September 2017

Der Brief ist immer noch in Deutschland. Immer noch! Was machen die denn da bei der Post? Meine Nervosität steigert sich weiter. Wie sieht das mit Bussen, Zügen, Flügen oder Mitfahrgelegenheiten nach München aus? Eigentlich alles zu teuer und für das eine Wahlwochenende auch nicht machbar - montags habe ich um 8 Uhr eine Pflichtveranstaltung… Nur um sicher zu gehen, überprüfe ich trotzdem sicherheitshalber 3 Mal am Tag den Briefkasten.

17. September 2017

Endlich, der Brief scheint in Frankreich angekommen zu sein! Wird das vielleicht doch noch etwas? Die Nervosität ist zwar nicht weg, aber sie lässt zumindest ein bisschen nach. Ich will mir eigentlich nicht die Chance entgehen lassen bei dieser Bundestagswahl - zumal meiner ersten - teilzunehmen. Auch wenn die Wahl eigentlich ein Recht ist, halte ich persönlich sie für eine moralische Pflicht! Und da gibt es - eigentlich - keine guten Ausreden!

18. September 2017

Um 17 Uhr sind meine Kurse vorbei. Ich fahre mit dem Fahrrad nach Hause und sehe, dass gerade nochmal Post eingeworfen wird - ich nehme mir vor nochmal gleich in den Briefkasten zu schauen Als ich ins Zimmer komme, schaue ich nach, ob sich der Status meines Briefs geändert hat - und tatsächlich: Erste Zustellung fehlgeschlagen, warten auf zweiten Versuch Ich starre den Bildschirm an, die Zeilen starren zurück. Darf also der Empfang des Wohnheims keine Einschreiben für mich annehmen? Ich gehe zum Briefkasten und finde eine Benachrichtigung für mich: Die Post wird in den nächsten Tagen nochmal versuchen den Brief zuzustellen. Alternativ kann ich ihn auch im zuständigen Post Büro abholen. Mh, da hatte ich vorhin schon geschaut, dass macht um 17:30 zu. Es ist 17:25 und das Büro ist 17 Minuten mit dem Fahrrad weg. Morgen habe ich zu den Öffnungszeiten Pflichtveranstaltungen, der Dozent ließe sich vielleicht überzeugen, dass ich einen Brief abholen muss. Mal schauen…

Ich treffe am Briefkasten einen Kommilitonen aus Brasilien, der an dem Tag dieselben Kurse wie ich hatte. Wir tauschen uns darüber aus wie gut (oder eben auch schlecht) wir die Dozenten verstanden haben und in einer kurzen Gesprächspause schaue ich nochmal genauer auf den Zettel… Während ich schon zu meinem Zimmer renne, um meine Jacke und meinen Fahrradschlüssel zu holen, werfe ich ihm noch etwas wie “au revoir” zu. Auf dem Zettel stand nämlich, dass das Büro bis 18:30 offen hat - und das kann ich noch gut schaffen!

Ich fahre los, auch wenn ich noch 60 Minuten habe, beeile ich mich lieber, man weiß ja nie und ein oder zwei Narben auf Grund von Fahrradunfällen pro Bundestagswahl sind wohl zu verkraften ;) Als ich beim Post Büro ankomme ist es 10 vor 6. Am Empfang macht ein handgeschriebenes Schild darauf aufmerksam, dass das Büro heute ausnahmsweise schon in 10 Minuten zu macht. 10 Minuten bleiben mir also um der Frau zu erklären, dass ich den Brief abholen will. Und da der Brief ja wieder nach Deutschland soll: 10 Minuten bleiben mir auch, um den dort herumstehenden Tisch in eine Wahlkabine umzuwandeln, meine Unterlagen auszufüllen, einzutüten und wieder per Luftpost aufzugeben. 10 Minuten um die 2 Seitige Erklärung zur Ausfüllung der Briefwahlunterlagen zu lesen und umzusetzen. Gut, dass ich die 10 Minuten nicht noch verwenden musste, um mir zu überlegen, wen ich wählen will - das war mir schon seit Wochen klar. Als ich um 17:59 nach erfolgreicher Wahl aus dem Post Büro heraustrete, bin ich tatsächlich glücklich.

Glücklich, dass es mit der politischen Partizipation noch geklappt hat. Im BR Fernsehen hieß es noch am selben Tag spätestens morgen solle man die Wahlbriefe innerhalb Deutschlands in den Briefkasten werfen.

Und jetzt zur eigentlichen Botschaft:

Als Auslandsdeutscher muss man - ohne Wohnsitz in Deutschland - die Briefwahl schriftlich und Wochen vorher bei der letzten Gemeinde in Deutschland beantragen. Man darf auch nur wählen, wenn man in den letzten 25 Jahren in Deutschland gewohnt hat oder glaubhaft versichern kann, dass man sich mit den politischen Umständen des Landes auskennt. Es ist so kompliziert, dass von einigen Millionen Auslandsdeutschen, bei der letzten Bundestagswahl gerade einmal 67057 Bürger Ihr Recht in Anspruch nehmen konnten. In andere Ländern gibt es gar keine Wahlen oder keine freien Wahlen.

Es gilt also die bequeme Art und Weise, mit der Inlandsdeutsche sich an den politischen Prozessen in Deutschland beteiligen können zu nutzen:
Am Sonntag sind Wahlen - geh hin und beteilige dich!
Unsere Vorfahren haben lange für dieses Recht gekämpft und dieser Kampf geht auch heute weiter: Mit deiner Entscheidung, wen du für dich in den Bundestag schicken willst.

Und wer - so wie zum Beispiel Hans-Olaf Henkel in der vergangenen Woche - verkündet, er werde nicht wählen, weil ihn keine Partei repräsentiert, der hat eines einfach immer noch nicht verstanden: Es gibt keine Partei, die einen zu 100% repräsentiert (Quelle: Wahl-o-mat), aber das ist auch nicht Sinn und Zweck einer Partei! Man muss Kompromisse machen, denn nur aus diesen Kompromissen entsteht eine Politik mit der die gesamte Bevölkerung des Landes einigermaßen leben kann. Was man aber mit seiner Stimme beeinflussen kann ist, in welche Richtung dieser Kompromiss geht: Will man etwa stillstehen, mehr erreichen oder zurück in die Vergangenheit - das ist eine von diesen Fragen, die man mit seiner Stimme beeinflussen kann.

Und falls ich es noch nicht erwähnt habe:
Am Sonntag sind Wahlen - geh hin und beteilige dich!

Samuel Teuber
Authors
PhD Student
Interested in formal methods for software and machine learning verification with a focus on cyber-physical systems and algorithmic fairness.